Dienstag, 28. Februar 2012

Frauen mit 50 am glücklichsten

 

Auch meine ehemalige Weltwoche-Kollegin Vera Bueller hat das Thema schon bearbeitet und mir einen von ihr geschriebenen Artikel aus dem "Beobachter" zur Verfügung gestellt. Herzlichen Dank!

Höchste Zeit aufzuhören mit der Mär, Älterwerden sei für Frauen ein Makel: Heute fangen sie mit 50 ein neues Leben an, starten nochmals voll durch, verlieben sich, erfüllen sich lang gehegte Träume - und sind glücklicher denn je. Text: Vera Bueller

Eine Affäre? Nach 35 glücklichen Ehejahren? Jeanette Hafner konnte es nicht fassen. Sie sass am Frühstückstisch und fixierte ihren Mann. Dann hörte sie sich jene Frage stellen, von der sie nie gedacht hatte, sie jemals zu stellen: «Ist sie jünger als ich?» Sie war es.

Jeanette Hafner hatte ihren 56. Geburtstag hinter sich und kam sich nun plötzlich minderwertig vor: «Du genügst nicht mehr, dachte ich nach der Scheidung.» Doch dann habe sie sich beweisen wollen, dass ihr Frischhaltedatum noch lange nicht abgelaufen sei «und ich bin jeden Abend auf die Gasse gegangen.» Mit zweifelhaftem Erfolg: «Gegenüber den jungen Frauen hatte ich keine Chance». Heute, fünf Jahre später, lacht sie darüber. Sie ist wieder verheiratet und rund‐ um zufrieden, denn sie hat ihr Leben komplett umgekrempelt.

Nicht, dass früher alles schlecht gewesen wäre: Als Mutter, Haus‐ und Ehefrau habe sie ein reiches und schönes, aber mit sechs Kindern auch ein Zeit und Kraft raubendes Leben geführt. Und als sie dann plötzlich als ausrangierte Ehefrau allein da stand, habe sie sich gefragt, «Ist das alles gewesen?».

Diese Frage stellen sich viele Frauen in den Fünfzigern. Vor allem jene, die zwei oder drei Jahrzehnte lang Kinder und Ehemann versorgt haben. Sie wollen nun endlich tun, was wegen des Familienlebens bisher nicht möglich war. Und die Frauen entdecken, dass es noch jede Menge Dinge im Leben gibt, die sie gut können und gern machen. Oft erfahren sie sogar erst jetzt grosse berufliche Erfolge oder erfüllen sich lang gehegte Wünsche. «Das ist anders als bei den Männern, die im dritten Lebensabschnitt eher ängstlich werden, weil ihre Kariere zu Ende geht und sie nicht wissen, was sie mit der freien Zeit anfangen sollen», meint etwa die US‐Bestsellerautorin Gail Sheehy, die Ratgeber für Frauen über 50 verfasst.

Jeanette Hafner hat ihre neue Freiheit genutzt, um nochmals voll durchzustarten: Mit 60 übernahm sie im Zürcher Oberdörfli die Travel‐Agency «Reisewelt», wo sie vom Last‐Minute‐Trip, über Business‐, Luxus‐ bis Badeferien alles anbietet. Eine Spezialität sind ihre kulinarischen Kulturreisen - beispielsweise in die Heimat der «Buddenbrooks», mit Lesungen und gemeinsamem Kochen nach den im Roman von Thomas Mann erwähnten Rezepten. Dieses Angebot werde vor allem von Frauen über 50 genutzt, «die noch oder wieder voll im Berufsleben stehen».

Für Jeanette Hafners gibt es keinen Zweifel, dass man als Frau über 50 primär Vorteile habe: «Erfahrung, Stehvermögen, Reife. Und man ist leidensfähig. Das stärkt.» Auch in der Liebe: Sie lebe in ihrer neuen Partnerschaft die Sexualität «in einer nie gekannten Intensität – nach dem Lustprinzip.» Sie geniesse den Moment, denke nicht mehr auf 20 Jahre hinaus in die Zukunft. «Man darf alles, muss nichts – auch nicht mehr eifersüchtig sein.»

Psychoanalyse zum 50. geschenkt

Auch die Physiotherapeutin Ingeborg Wagner (54) ist frisch verliebt und glaubt, ihre Lust mehr den je ausleben und geniessen zu können. «Meine Zeit ist jetzt und ich lebe alles, was möglich ist – wer weiss, ob ich das in fünf Jahren noch kann?» Ihr Mann starb bereits 1989. Damals war ihr Sohn zweieinhalb Jahre alt.

Als Ingeborg Wagner 50 wurde, war das für sie eine Zäsur, die sie auf ausgefallene Art zelebrierte: «Ich habe mir eine Psychoanalyse geschenkt, weil ich wissen wollte: Wer bin ich?» Gewiss, man könne sich dies an jedem Geburtstag fragen, «und man kann sich zwischen 16 und 80 auch immer mal alt vorkommen. Aber der 50. ist wie eine Sollbruchstelle.» Jedenfalls verliere sich das Gefühl, das Leben sei endlos. Auch liessen sich körperliche Veränderungen nicht mehr verdrängen.

Keine Frage, die meisten Frauen ab 50 neigen zur Üppigkeit, die Sehkraft lässt nach, auf den Händen und Wangen bilden sich braune Flecken und um die Augen, den Mund sowie auf der Stirn entstehen Fältchen. Vor allem aber signalisieren die Wechseljahre die eigene Vergänglichkeit: Das war’s dann also? Wer bisher keine Kinder bekommen hat, wird keine mehr kriegen. Viele Frauen empfinden das Ende ihrer Fruchtbarkeit als Ende der Weiblichkeit – und setzen dies gleich mit dem Verlust an Attraktivität.

«Ich freue mich ungemein, wenn mir jemand sagt, ich sähe jünger aus», gesteht Ingeborg Wagner lachend. Sie empfinde jedoch die Veränderung ihres Körpers als etwas Spannendes – auch wenn die Hormone manchmal verrückt spielten. «Die Themen Fortpflanzung, Verhütung entfallen, das Ausbleiben der Monatsblutungen setzt neue Kräfte frei. Es ist wie eine zweite Pubertät.»

Ingeborg Wagner lebt heute anders als vor ihrem 50.: Sie sei nicht mehr so verfügbar für andere, denn «Alter ist Radikalisierung», ist sie überzeugt. Man lerne Nein zu sagen, setze klar Prioritäten, lasse Grenzüberschreitungen zu, lote Neues aus, riskiere mehr. «Es regiert nicht mehr so sehr die Vernunft. Ich bin spontaner und frecher geworden – oder besser gesagt, unbekümmerter.»

Das Leben fing erst mit 50 an

Selbstbewusstsein wurde Eva Gillis (57) nicht in die Wiege gelegt: Zwar hat sie einen Beruf, nämlich Buchhändlerin, gelernt, «aber ich war darauf programmiert, im alt hergebrachten Sinn Hausfrau zu werden und brav zu funktionieren». Ihre Ehe verlief dann allerdings alles andere als glücklich, der Sohn geriet in die Drogenszene und sie selbst erlitt bei einem Autounfall ein schweres Schleudertrauma: «Ich war kaum noch lebensfähig, ertrug keine Geräusche mehr und hatte ständig Migräne.» Sie habe darüber nachgedacht, in ein geschlossenes Kloster zu gehen, «nicht des Glaubens wegen, sondern um Ruhe zu finden».

Dann, mit 50, «war mein Sohn erwachsen, meine Aufgabe als Mutter erfüllt – meine Rolle als Ehefrau hatte ich ohnehin längst verloren. Da beschlossen mein Mann und ich, dass wir nicht gemeinsam alt werden wollen». Und nachdem der Schlussstrich gezogen war, habe sie etwas gewagt, wovon sie ein Leben lang träumte: Tango tanzen lernen. Sie war fasziniert von dieser «Choreografie der Berührungen – wie sich die Körper begegnen, sich trennen und wieder finden». Und da passierte es: Eva Gillis begegnete ihrer grossen Liebe, es begann «ein einziger Liebesrausch», schwärmt sie. Sie habe zum ersten Mal begriffen, was «Herzenswärme» sei.

Durch ihren neuen Partner kam sie auch zu den «1000 Friedensfrauen», die sich mit Veranstaltungen, Ausstellungen und Publikationen für den Frieden engagieren. Was als eine kleine, einmalig gedachte Aufgabe im Dienste der Friedensfrauen begann, wurde für Eva Gillis zum Fulltime‐Job – allerdings zu einem ehrenamtlichen: Sie koordiniert heute auf der ganzen Welt die Wanderausstellung, reist viel und «war noch nie so zufrieden». Sie habe das Leben erst mit 50 an sich heran gelassen. Voraussetzung für ihr spät gefundenes Glück sei jedoch ihre Lebenserfahrung gewesen, ist sie sich sicher. Und sie glaubt, was Glücksforscher behaupten: Die Fähigkeit, sich mit dem Leben auseinander zu setzen, gepaart mit Altersweisheit, führe zum Glück – und davon hätten Frauen in den Fünfziger am meisten.

«Allerdings», schränkt Eva Gillis sogleich ein, «wenn ich eine 50‐Jährige in Kenia oder Nepal betrachte, gilt dies wohl kaum». Dort würden die Frauen ganz anders vom Leben geprägt als in der so genannt Ersten Welt – von Glück in den Fünfzigern sei da wenig zu spüren.

Diese Frauen wurden freilich auch nicht befragt, als die Kosmetikfirma Dove vor zwei Jahren eine internationale Studie über Frauen 50‐plus in Auftrag gab. «Dove» wollte heraus finden, mit welchen Schönheitsidealen und Vorurteilen sich Frauen ab 50 konfrontiert sehen. In der Schweiz wurden die Daten vom Meinungsforschungsinstitut Link erhoben.

Die Studie bilanziert, dass sich die Befragten weder als «ältere Damen», noch «in den besten Jahren» und schon gar nicht als «ältere Klientel» sehen. Im Gegenteil: Die Frauen über 50 fühlen sich jung, sind finanziell unabhängig und aktiv in die Arbeitswelt wie auch in die Gesellschaft integriert. In der Schweiz gaben 78 Prozent der Befragten an, sie seien zu jung, um als alt bezeichnet zu werden. 76 Prozent sollen sogar stolz darauf sein, ihr Alter zu nennen.

Doch aufgepasst: Wer als ältere Frau einen Partner im Internet sucht und sein Alter nennt, wird sich wundern. Die Autorin Judith Alwin (47) hat im Selbstversuch die unterschiedlichsten Partnervermitt‐ lungsangebote online getestet und darüber ein Buch geschrieben (siehe Literaturhinweis). Ihre Erfahrung: «Es regiert im Netz die Männerwelt. Selbst der dümmste Greis sucht noch ein 20‐jähriges Topmodel.» Und wer als ältere Frau auf www.datingcafe.de klickt, sieht gleich total alt aus: Der Service ist nur für Frauen bis 44 gratis und umgekehrt zahlen Männer nichts, wenn sie eine Frau ab 45 nehmen.

Den Wandel hautnah miterlebt

Was Wunder, finden 75 Prozent der für «Dove» Befragten, dass die Gesellschaft ihre Ansichten über die heutige Generation der Frauen 50‐plus ändern müsse. Zumal es sich bei den zwischen 1946 und 1964 geborenen so genannten Babybommer um die 68er handelt: In ihrer Jugend haben sie Autonomie im Denken, in der Kleidung, im Musikgeschmack und in der Sexualität erkämpft. «Nun erheben sie den Anspruch, anders, besser und schöner alt zu werden als ihre Eltern», sagt eine, die es wissen muss: Eva Mezger‐Haefeli.

Die frühere TV‐Moderatorin hat während 20 Jahren fürs Schweizer Fernsehen Sendungen über das Thema Alter nicht nur moderiert sondern auch redaktionell mitgestaltet – «Seniorama» und «Treffpunkt». «Das war für mich die beste Vorbereitung aufs Älterwerden», sagt die heute 75‐Jährige. Will heissen: Eva Mezger‐Haefeli ist aktiv wie eh und je. Sie hütet die Grosskinder und engagiert sich als «Seniorin in der Schule», einem Zürcher Betreuungs‐Projekt.

Eva Mezger‐Haefeli ist eine Fernsehfrau der ersten Stunde. Bereits 1953 kam sie zum Schweizer Fernsehen – zuerst als Programmassistentin und «Mädchen für alles», dann als Ansagerin. 1957 ging sie nach Deutschland, spielte Theater, heiratete den Regisseur Theo Mezger, bekam drei Kinder und gab der Familie zu liebe die eigene Karriere vorerst auf. Gut ging das nicht – «mein Mann war ständig unterwegs, wir lebten uns auseinander». Nach dem Scheitern der Ehe, 1973, kehrte Eva Mezger‐Haefeli mit ihren Kindern in die Schweiz zurück.

Als alleinerziehende Mutter und vollzeitberufstätige Frau sei sie wohl immer derart beschäftigt gewesen, dass sie eine Midlife‐Crises gar nicht an sich heran kommen lassen konnte, meint die Frohnatur. «Aber es gab eine Zeit mit Mitte Fünfzig, als gleich drei mir nahe stehende Menschen an Krebs starben.» Von da an habe sie es als Geschenk empfunden, dass sie noch leben darf. «Dafür nehme ich etwas Schlabberhaut gern in Kauf.»

Trotzdem hat sie dafür Verständnis, dass es vielen Frauen schwer falle, älter zu werden: Man bekommt Falten, Flirts werden selten, Männer drehten sich nicht mehr nach einem um. Kurzum: Die Attraktivität nimmt ab. Das bedeute aber nicht, dass man Altwerden gleich mit Treppenlift und Stützstrümpfen gleich setzen müsse, meint Eva Mezger‐Haefeli. Denn «heute gibt es so viele Möglichkeiten sich fit zu halten, wie noch nie».

Vorbei die Zeiten, in denen Joggen und Muskeltraining bei einer Frau als würdelos galten und Nordic Walking in der Fussgängerzone Kopfschütteln auslöste. Vorbei auch die Zeiten, in denen Frauenzeitschriften über kleine Schönheits‐OPs wetterten. Und Antiaging‐Produkte sind als Waffen gegen Stirnfalten und Krähenfüsse eine Selbstverständlichkeit geworden.

Eva Mezger‐Haefeli sieht in dieser Entwicklung einen emanzipatorischen Schritt. «Noch vor dreissig, vierzig Jahren waren die 50‐Jährigen mehrheitlich kohlenrabenschwarz angezogen, trugen ihr Haar zu einem Dutt gebunden, waren uralt und fühlten sich vermutlich auch so.» Und wenn sie beispielsweise an Margit Rainer als 45‐Jährige im Polizist Wäckerli denke, «war das schon jenseits...» Kein Vergleich zu Schauspielerinnen wie Maria Furtwängler, Hannelore Hoger, Rita Russel, Senta Berger oder Iris Berben.

Heute porträtiert die New Yorker Fotografin Annie Leibovitz sogar nackte Frauen zwischen 54 und 63 Jahre, die für «Dove»‐Kosmetika werben. Und niemand stört sich daran. «Reif ist schön», so die Botschaft an Frauen im fortgeschrittenen Alter.

Lange Zeit, bis in die 1990er Jahre, hatten die Werber die Kundschaft jenseits der 50 ignoriert. Doch das neue Jahrtausend gehört aufgrund der demografischen Entwicklung den Alten. «Und die Werbebranche hat erkannt, dass das Bild des passiven lethargischen Rentners definitiv überholt ist», resümiert Dominique von Matt, Mitinhaber der Werbeagentur Jung von Matt.: «Wir kommunizieren mit aktiven, erlebnishungrigen, neugierigen und konsumfreudigen Menschen.»

Entsprechend gewachsen ist bei vielen Werbern das Interesse an Studien, die sich mit der Denkweise, dem Lifestyle und dem Konsumverhalten der Generation 50‐plus befassen. Zum Beispiel am Ergebnis der Untersuchung «Unsichtbar – Frauen über 50» von Liliane Forster: «Frauen ab 50 wissen genau, wo sie im Leben stehen. Sie pflegen ihre Individualität, wissen Freiheit zu schätzen, sehen sich aber auch als Teil eines grossen Ganzen – gesellschaftlich, ökologisch oder spirituell.»

Und – so die Studie des weitern – was den Konsum angeht, seien Frauen zwischen 50 und 70 ausgesprochene Konsumprofis: «Sie haben alle Modeströmungen erlebt, sind kritisch gegenüber Marketingstrategien.»

Dennoch scheint die Strategie aufzugehen, Produkte für die reifere Haut nicht mit dem Label «anti‐aging» sondern mit «pro‐age» zu etikettieren. Dazu geführt hat eine banale Erkenntnis: Wer den Se‐ niorenmarkt erschliessen will, muss für 50‐plus ein gutes, positives Label finden. «Wenn irgendwo ‹Senior› drauf steht, kauft das niemand unter 80 Jahren», sagt Karin Frick vom Gottlieb‐Duttweiler‐ Institut, die Verfasserin der Studie «Generation gold».

Aber für die Autorin ist nicht alles Gold was glänzt: «Gesund, agil, selbstständig – die Werbung vermittelt uns das Bild von fitten weisshaarigen Dynamikern, die auf Weltreise gehen, sich beim Segeln vergnügen oder noch voll im Berufsleben stehen.» Dabei stelle sich auch immer mehr die Frage, wer künftig die Freiwilligenarbeit unserer Grosseltern mache: Wer hütet die Enkelkinder, wenn s’Grosi keine Zeit hat, weil es eine Ausbildung macht oder sich grad auf Kulturreise in Indien befindet?

Ausserdem warnt die Ökonomin: «Erfolgreich alt werden, wird zur Pflicht». Da verstärkt sich der Druck auf jene, die im Rentenalter nicht mehr Chinesisch lernen, keinen Marathon mehr laufen und auch keine Traumreise unternehmen wollen. Frauen, die sich einfach nur zurücklehnen, ihre Katze streicheln, Kreuzworträtsel lösen und Musse haben möchten.

«Man befindet sich immer in einem sozialen Umfeld. Und da hört einem als ‹Stubenhocker› plötzlich niemand mehr zu, wenn rundherum Aktivprogramm herrscht», gibt Karin Frick zu denken. Heute gelte bei den Alten nur mehr jener etwas, der öffentlich demonstriere «Hey, ich bin vital und mache interessante Dinge». Das könne im besten Fall eine Win‐Win‐Situation sein, weil man sich aktiv auch besser fühle.

Auf dem Arbeitsmarkt chancenlos

Die Wirklichkeit sieht indes oft anders aus: Die Krankheitsanfälligkeit nimmt im Alter zu, die Leistungsfähigkeit ab und wer in den Fünfzigern arbeitslos wird, hat auf dem Stellemarkt kaum mehr Chancen. So wie Flavia Ronchetti (60). 18 Jahre hat sie im gleichen Restaurant in der Luzerner Altstadt hinter der Bar und im Service gearbeitet. Der «Stadtkeller» war quasi ihr zu Hause. Dann gab es einen Pächterwechsel und «es war jüngeres Blut gefragt», sagt sie – der bittere Unterton ist nicht zu überhören. Seit ihrer Kündigung sind vier Jahre vergangen. Vier Jahre Stellenbewerbungen schreiben, Absagen verdauen, Übergangsjobs annehmen, Arbeitslosengeld erbetteln, RAV‐Kurse absolvieren. «Das nagt am Selbstwertgefühl», sagt Flavia Ronchetti.

Dabei war sie einst ein begehrtes Fotomodel, spricht vier Sprachen und bringt viel Erfahrung mit: Mit ihrem ersten Mann hatte sie eine eigene Pension geführt und nach der Trennung war sie stets im Gastgewerbe tätig – in der Küche, im Service, am Buffet, hinter der Bar. Wenn Flavia Ronchetti nun hört, wie toll es sei, im Alter auf die gemachten Erfahrungen zurück greifen zu können, wird sie wütend: «Es ist eher ein Hindernis. Gefragt sind Leute, die sich herum kommandieren lassen, keine Frage stellen, nichts gelernt haben und billig sind.» Und wenn sie lese, wie glücklich die Frauen ab 50 gemäss internationaler Studien angeblich seien, «frage ich mich, wo solche Studien gemacht werden».

Die Wissenschaftler seien weltfremd, wüssten nicht, was es bedeute, ein Leben lang kein Geld zu haben, stets zu Rudern, um Job und Kind unter einen Hut zu bringen, «sich wie auf einer Achterbahn zu fühlen und nie leiser treten zu können». Gewiss, auch sie habe Ideen, was sie alles machen könnte. Am liebsten würde sie einen Mittagstisch für ein paar wenige Berufstätige führen – oder noch lieber eine Katzenpension eröffnen. «Aber das ist alles eine Frage des Geldes.» Sie lebe am Existenzminimum, habe Mühe, ihre Wohnung halten zu können und für sie sei es schon Luxus, dass sie ein Büsi habe.

Gleichwohl hat sie das Leben gelehrt, dass es immer wieder Lichtblicke gibt: Gerade hat sie eine Teilzeitstelle aus Hauswirtschafterin bei einem Architektenpaar bekommen. Auch sei sie durchaus stolz auf ihr Leben, auf ihren Sohn, und darauf «dass ich mir meine Falten ehrlich erworben habe – vom Lachen und vom Weinen».

Glücklich sein beginnt im Kopf

Lachen können, weinen können, lieben können, geniessen können, das ist auch für Dagmar Huguenin (53) das Wichtigste. «Solche Fähigkeiten sind aber keine Frage des Lebensalters. Das Leben ‹umbewerten›, neue Werte und neue Bewertungen für sich und die Welt finden», das sei permanent wichtig. Von Beruf ist Dagmar Huguenin Kunstvermittlerin und führt ein eigenes kleines Unternehmen in Küsnacht bei Zürich. Sie bietet schon seit bald 15 Jahren massgeschneiderte Kurse, Seminare, Referate, Museumsführungen sowie Kunst‐ und Architekturreisen ins Ausland für Private wie auch für Firmen an.

Dagmar Huguenin ist eine Einzelkämpferin und voller Elan. Daran habe ihr 50. Geburtstag nichts geändert. «Aber früher war ich mehr auf Achse und habe viel Energien aus dieser ‹Aussenwelt› geschöpft. Heute zehre ich vor allem von meinen eigenen Ressourcen – bin jedoch neugierig wie eh und je.»

Erst die Lebens‐ und Berufserfahrung habe sie reif gemacht. «Ich bin angekommen in meinem Leben und fühle mich mit meiner Arbeit, meinem Dasein völlig im Einklang.» Eigentlich habe sie sich noch nie so glücklich und frei gefühlt. «Ich bin viel gelassener geworden, was ich auf eine gewisse Altersweisheit zurück führe. Man durchschaut mehr, der Geist klärt sich.» Es sei wie der Häutungsprozess einer Schlange.

Das tönt alles etwas kopflastig. Dagmar Huguenin lässt dies nur teilweise gelten: «Es braucht eine positive Sichtweise und ein positives Denken. Und das beginnt im Kopf – aber auch im Herzen.»

Erschienen im «Beobachter», 2009